8. März 2023
Der Boden der Friedhofanlage Thalwil verfügt über ungenügende Verwesungseigenschaften. Deshalb muss die Gemeinde diesen im Laufe der nächsten Jahre umfassend sanieren. In der ersten Bauetappe, die im Januar 2023 startete und bis Ende des Jahres andauert, werden jene Erdbestattungs- und Urnengräber erneuert, deren Grabesruhe bereits abgelaufen ist. Ein anspruchsvolles Unterfangen – und ein Fall für einen professionellen Exhumator.
Es ist kaum zu übersehen: Hier auf dem Friedhof in Thalwil sind Bauarbeiten im Gange. Nicht nur an einem Ort, gleich mehrfach trennen weiss eingepackte Absperrgitter Grabsteine von Bagger und Schaufel. Zu hören sind die Arbeiten aber kaum. Kein Arbeiter, der sich über den Baulärm hinweg mit dem Arbeitskollegen verständigen möchte. Kein Presslufthammer, der den Boden zum Zittern bringt. Nein, man könnte die weissen Gitter schon fast ausblenden. Aber eben nur fast. Wäre nicht beinahe ein Drittel des Friedhofs damit eingepackt. Und würden die Bagger nicht über die Absperrungen hinausragen.
Grund für den Sichtschutz und die Bagger sind laufende Sanierungsarbeiten. Die Bodenbeschaffenheit des Friedhofs Thalwil ist für den Verwesungsprozess ungenügend. Deshalb muss die bestehende Erde abgetragen und der Boden mit verschiedenen Erd- und Gesteinsschichten aufgefüllt werden: Humus, Sickerkies, Splitt und weitere organische Gemische liegen dafür bereits bereit. Mit der Bauleitung hat die Gemeinde die Tony Linder + Partner AG mit Sitz im urnerischen Altdorf beauftragt.
Eine Mischung aus Archäologie, Humanmedizin und Landschaftsgärtnerei
Ein Mann, gekleidet in Schutzlatzhose und Gummihandschuhe, legt behutsam einen Schädel vor sich auf die Erde. Rechts von ihm ragt eine zirka zwei Meter hohe Betonwand in die Höhe. Der Mann befindet sich in einer Art Grube. Links vom platzierten Schädel sind die Überreste von zwei, darüber von drei weiteren Leichen erkennbar. Sie alle wurden fein säuberlich dort platziert. Die Arme so drapiert, als wären die Hände über dem Leib zum Gebet gefaltet. Er entnimmt dem weissen Plastik links von ihm weitere Knochen: Femur, Elle, Speiche, Beckenknochen. Langsam, fast schon andächtig, werden die menschlichen Knochen zu einem Skelett komplettiert.
Am Werk ist hier Heinz Wicki. Er ist als Exhumator und Co-Bauleiter für die Sanierungsarbeiten auf dem Friedhof Thalwil zuständig. In einer ersten Etappe kümmert er sich im südwestlichen Teil des Friedhofs um die Erdreihengräber. Das Skelett, welches Heinz Wicki sorgsam zusammensetzt, wurde nur wenige Stunden zuvor dem Erdreich des Friedhofs entnommen. Es handelt sich dabei um die Gebeine einer Person, deren Begräbnis mindestens 30 Jahre zurückliegt. Eigentlich dürften nach so vielen Jahren kaum noch Überreste sichtbar sein. Die Realität sieht aber anders aus. Ist der Boden zu feucht, beispielsweise, weil Wasser nicht absickern kann, findet die Zersetzung nicht vollständig statt. Dann ist es möglich, dass auch nach über 30 Jahren Schädelknochen zu Tage kommen. So auch auf dem Thalwiler Friedhof. «Dieser Verstorbene hier ist über Jahrzehnte im Wasser gelegen», erklärt Wicki und deutet auf den Leichnam zu seiner Linken. «Man könnte sagen, er wurde konserviert». Der Unterschied zum soeben platzierten Skelett ist klar ersichtlich: Es scheint, als wäre der Verwesungsprozess einfach nach zehn Jahren gestoppt worden. So sind beim besagten Leichnam im Rumpfbereich kaum Knochen zu sehen, die Silhouette des einst kräftigen Körpers ist nach wie vor klar erkennbar.
Seit über 40 Jahren arbeitet Heinz Wicki bei der Tony Linder + Partner AG, welche sich auf Friedhofplanungen und Exhumationen spezialisiert hat. Letztere sind in unterschiedlichen Fällen notwendig. So ist Heinz Wicki oft mit Rechtsmedizinern im Kontakt, die Untersuchungen an bereits bestatteten Personen durchführen müssen. Diese entnimmt er als Exhumator dem Erdreich und sorgt für eine korrekte Überführung. So, dass die Gebeine unbeschädigt zum Untersuchungsort transportiert werden können. Durch die langjährige Erfahrung und sein grosses Interesse an rechtsmedizinischen Vorgängen, hat er sich ein umfassendes anatomisches Wissen angeeignet. «Ich kann mittlerweile mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit feststellen, ob eine Person durch die Einwirkung äusserer Kräfte verstorben ist» erzählt Wicki. Diese hinterlassen Druckstellen und Spuren auf den Knochen. Aber nicht nur bei den Schweizer Gerichtsmedizinern, sondern auch unter Archäologen ist sein Name ein Begriff. So habe er vor einigen Jahren den Bischoff exhumiert, welcher ihn gefirmt hatte. Eine emotionale Herausforderung: «Bei diesem Beruf musst du komplett abschalten können. Ein solches Erlebnis geht einem dann aber schon nahe.». Erlebtes lässt er gemeinsam mit der Arbeitskleidung am Arbeitsort zurück. Sonst könne er den Beruf nicht ausüben, sagt er.
Mit Empathie und Feingefühl
Abschalten bedeutet aber nicht Gleichgültigkeit. Im Gegenteil: Den Angehörigen tritt Heinz Wicki empathisch gegenüber. Nicht selten komme es vor, dass trauernde, neugierige oder misstrauische Personen die Exhumationsarbeiten beobachten. Hier brauche es Feingefühl, um zu erkennen, aus welchen Gründen sich die Besuchenden der Baustelle nähern. «Ich suche dann immer möglichst schnell den Kontakt», meint Wicki. «Oftmals möchten sich diese Personen einfach nur vergewissern, dass mit den Gebeinen sorgsam umgegangen wird».
Insbesondere bei Friedhofsanierungen sehen die Friedhofbesucher oft nur die Bagger und reimen sich den Rest zusammen. Dabei sind die Bagger nicht dazu da, möglichst schnell ein grosses Loch zu graben. Auf dem Friedhof wird mit äusserster Sorgfalt, beinahe akribisch gearbeitet. 10-Zentimeterweise tragen die Baggerführer Erdschicht um Erdschicht grabfeldweise ab. Stets unter Beobachtung eines Exhumators. Sobald Überreste einer Leiche, eines Sarges oder mitbestatteter Gegenstände erkennbar sind, wird die Exhumation zur Handarbeit. Dann entnehmen Wicki und seine Mitarbeitenden sämtliche Gebeine, Schmuck und weitere Besitztümer aus dem ehemaligen Grab. Sie werden auf einem Plastik gesammelt, der dem Transport zur Gebeine-Grabstätte dient. Dort werden die sterblichen Überreste und alle Besitztümer erneut bestattet.
Die Gebeine-Grabstätte wird jeweils am ersten Tag der Arbeiten geschaffen und verfügt über die notwendigen Verwesungseigenschaften. Überbleibsel von Särgen und deren Fütterungsmaterial landen in einer Mulde und werden verbrannt. Die Exhumatoren arbeiten ohne Schutzmaske – normalerweise. «In der Regel muss man sich keine Gedanken über Krankheiten machen. Allfällige Erreger existieren nach so vielen Jahren keine mehr», erklärt Wicki. «Findet die Exhumation aber noch während des Verwesungsprozesses statt, was bei Umbettungen sein kann, schützen wir uns zusätzlich vor dem Geruch». Auch bei engen Platzverhältnissen oder wenn Sporen oder viel Staub zum Vorschein kommen, sei die Maske im Einsatz.
Die Exhumation wird jeweils genau dokumentiert. Sowohl der Zeitpunkt, wie auch der Ort des Fundes halten die Exhumatoren in einer Liste fest. Der Ort der erneuten Beisetzung, wo die Gebeine die ewige Ruhe finden werden, wird ebenfalls auf einem Plan festgehalten. Die Unterlagen übergibt die Bauleitung am Ende der Arbeiten an die Gemeinde. «Dies dient zu unserem Schutz, aber auch zur Information, sollte irgendwann eine erneute Exhumation notwendig sein», begründet Wicki.
Heinz Wicki hat nun sämtliche Gebeine dem weissen Plastik entnommen. Nur ein Gegenstand bleibt noch. Langsam hebt Heinz Wicki den kleinen Plüschbären auf und befreit diesen mit sanften Handbewegungen von etwas Erde. Das Stofftier legt er behutsam auf das Skelett.
Anstehende Arbeiten im Rahmen der ersten BauetappeIn der ersten Bauetappe des Friedhofentwicklungskonzepts, welche noch bis Ende 2023 andauern wird, werden neben den Erdbestattungsgräbern auch Urnengräber saniert. Dabei bleibt die Grabesruhe jederzeit gewahrt. Sollten Urnen zu Tage kommen, werden diese an derselben Stelle, rund 90 cm tiefer im Erdinnern, erneut beigesetzt. Neben den Sanierungsarbeiten sieht das Friedhofentwicklungskonzept die Schaffung neuer Grabarten und Bestattungsmöglichkeiten, wie Themengräber, vor. Dazu wird im Herbst 2023 ein neues Kindergrabfeld im nordwestlichen Teil des Friedhofs erstellt. Kinder, Totgeburten und Föten finden darin ihre letzte Ruhe. Für die Gestaltung des Kinder- und Sternenkindergrabfelds erfolgte im Dezember 2022 die Ausschreibung eines Gestaltungswettbewerbs. Nach Ablauf der Eingabefrist am 17. März 2023 entscheidet ein Ausschuss der Projektkommission Friedhofentwicklungskonzept (FEP) über die Zuschlagsvergabe. Sämtliche Informationen zum Bauprojekt finden sich auf der Gemeindewebsite unter thalwil.ch/friedhofentwicklung. |
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